Terror von oben und unten
Über die Hintergründe der jüngsten Eskalation um Kaschmir
von Hashim Bin Rashid

Am Dienstag, den 6. Mai feuerte Indien mindestens neun Raketen auf pakistanisches Staatsgebiet ab. Es war der Gegenschlag zu dem terroristischen Angriff in Pahalgam im indischen Teil Kaschmirs, bei dem am 22. April 26 Touristen getötet worden waren – bis auf eines kamen die ausschließlich männlichen Opfer alle aus Indien.
Die indische Regierung verkündete, sie habe nur sogenannte terroristische Infrastruktur im Visier gehabt. Um zu demonstrieren, dass sie hier für die Witwen der Opfer kämpfe, nannte sie ihre militärische Operation „Sindur“ – nach dem zinnoberroten Pulver, das ein Hindu seiner Braut am Tag der Hochzeit auf die Stirn tupft, womit sie fortan in der Öffentlichkeit als verheiratete Frau erkennbar sein soll.
Laut Pakistan waren bei den indischen Raketenangriffen allerdings auch über 25 Zivilisten umgekommen. Diese Zahlen wurden nach ersten Berichten bestätigt, später jedoch angezweifelt. Und als Pakistan behauptete, fünf indische Kampfjets abgeschossen zu haben, wurden die sozialen Medien des Landes mit Jubelposts überflutet, die die Überlegenheit der in China eingekauften Chengdu-J-10-Kampfflugzeuge gegenüber den Rafale und Mirage 2000 aus französischer Herstellung aufseiten Indiens feierten.1
Es war die fünfte militärische Auseinandersetzung zwischen den beiden Atommächten seit der Aufteilung Britisch-Indiens in zwei Staaten. Doch zum ersten Mal seit dem Bangladeschkrieg von 1971 wurden auch Gebiete außerhalb der umkämpften Kaschmirregion angegriffen. So zielten die indischen Raketen auf Muridke und Bahawalpur, zwei bekannte Rückzugsorte der Islamistengruppe Lashkar-e Taiba (LeT). Neu-Delhi machte auch gleich die LeT, die von der UNO als Terrororganisation eingestuft wird, für die Koordinierung des Angriffs vom 22. April verantwortlich und behauptete, sie sei dabei von der Regierung in Islamabad unterstützt worden.
Mit diesem Angriff auf Pakistan überschritt Indien eine stillschweigende rote Linie. Pakistan, wo das Militär in einer unpopulären Regierung die Fäden zieht, gab seine Zurückhaltung ebenfalls auf und griff indische Luftwaffenstützpunkte, Raketendepots und Luftabwehr mit Boden-Boden-Raketen an. Die Angst vor einer Eskalation des Konflikts führte am 9. Mai zu einem raschen Eingreifen der internationalen Gemeinschaft, um einen Waffenstillstand auszuhandeln.
Ein solcher kann jedoch nur von Dauer sein, wenn es Indien und Pakistan gelingt, die Dynamik des Konflikts zu entschärfen. Dazu wäre eine Klärung des Status von Kaschmir und der sezessionistischen Provinz Belutschistan in Pakistan nötig – und der künftigen Versorgung mit Wasser aus dem Indus-Flusssystem.
Zu dem Anschlag in Pahalgam bekannte sich schließlich die Resistance Front, eine relativ neue islamistische Gruppe in Kaschmir, die mit der LeT tatsächlich eng verbunden ist. Die Resistance Front wurde erst 2019 gegründet – in dem Jahr, als die hindunationalistische Zentralregierung den Artikel 370 der indischen Verfassung aufhob und damit den Autonomiestatus von Jammu und Kaschmir. Der Bundesstaat wurde zum Unionsterritorium degradiert, das heißt, er wird seit 2019 direkt von Neu-Delhi aus regiert. Es war ein sorgfältig vorbereiteter Coup. Die 500 000 bereits in der Region stationierten Soldaten wurden durch weitere tausende verstärkt und potenzielle „Unruhestifter“ verhaftet – insgesamt 4000 Menschen.2
In den darauffolgenden zwei Jahren verhängte die Modi-Regierung immer wieder Ausgangs- und Nachrichtensperren in Jammu und Kaschmir. Unter diesen Bedingungen gewann die militante Autonomiebewegung in Kaschmir rasch Unterstützer – mit dem Nebeneffekt, dass linke Organisationen wie die Jammu Kashmir Liberation Front (JKLF), die sowohl Indien als auch Pakistan kritisch gegenübersteht, von islamistischen und propakistanischen Gruppen verdrängt wurden.
Nur einen Monat vor dem Anschlag in Pahalgam setzte die Balochistan Liberation Army (BLA) am 11. März einen Zug des Jaffar Express zwischen Quetta und Peschawar fest. Unter den mehr als 500 Fahrgästen befanden sich auch Militärs. Nach Angaben der pakistanischen Armee kamen bei der Befreiung der Geiseln mindestens 64 Personen ums Leben, davon 33 BLA-Kämpfer. Die Guerilla griff auch Infrastruktur des chinesisch-pakistanischen Wirtschaftskorridors an, der die Autonome Region Xinjiang mit dem von China kontrollierten Tiefseehafen Gwadar in Belutschistan verbinden soll.
Gwadar ist für Peking auch aus strategischen Gründen wichtig, da nahezu alle östlichen Küstenbereiche Chinas von US-Militärstützpunkten (in Japan, in Südkorea, auf den Philippinen und so weiter) umgeben sind.

Streit um den Wasservertrag
Die BLA, eine von vielen Gruppen, die für die Befreiung Belutschistans kämpfen, entstand spätestens 2004. Seit damals ist die Region militärisch besetzt und die Bewegungsfreiheit durch Straßensperren, Personenkontrollen und Ausgangsbeschränkungen ähnlich unterdrückt wie in Kaschmir. Menschen verschwinden und werden ohne Gerichtsurteil hingerichtet. Pakistan verfolgt eine brutale „Kill and dump“-Strategie: In den letzten 15 Jahren wurden Massengräber mit den verstümmelten Leichen hunderter belutschischer Aktivist:innen gefunden.
Während die indische Führung dem pakistanischen Regime vorwirft, den Aufstand in Kaschmir anzuheizen, spricht die pakistanische Armee ihrerseits von „Terroristen der angeblichen belutschischen Befreiungsarmee, die von Indien bezahlt werden“.3 Obwohl es grundsätzlich denkbar ist, dass Erzfeinde alles unterstützen, was dem Gegner schadet, gibt es keine konkreten Beweise für diese Anschuldigungen. Sie dienen eher dazu, das brutale Vorgehen gegen die Menschen in den rohstoffreichen Regionen zu verschleiern. Dabei fördert die Militarisierung des Alltags in Belutschistan und Kaschmir den Zulauf zu bewaffneten Gruppen.
Als wenige Tage vor dem Anschlag der pakistanische Armeechef Asim Munir die Region Kaschmir als Pakistans größte Schwachstelle bezeichnet hatte, bezog er sich dabei vor allem auf Pakistans Anfälligkeit in Bezug auf die Wasserversorgung des Landes.4 In Indien ist man sich dessen durchaus bewusst: Kurz nach dem Anschlag kündigte Neu-Delhi dann auch an, es werde den Indusvertrag aussetzen, der die Nutzungsrechte im Indusbecken mit seinen sechs Flüssen regelt. Und am 6. Mai erklärte Premierminister Modi sogar, dass von nun an „indisches Wasser nur für Indien fließen wird“.5
Bei der Teilung Indiens 1947 war die Wasserfrage noch ausgespart worden. Sie wurde erst 13 Jahre später unter Schirmherrschaft der Weltbank entschieden. In dem Abkommen wurden Indien die Nutzungsrechte für die drei östlichen Flüsse Beas, Ravi und Satluj überlassen und Pakistan die der drei westlichen Flüsse Indus, Chanab und Jhelam. Weil der Indus und zwei seiner westlichen Nebenflüsse aber in Indien entspringen, wurden dem Land im Induswasservertrag die Nutzungsrechte für Schifffahrt, Fischfarmen und in begrenztem Umfang Stromerzeugung eingeräumt. Letzteres führte immer wieder zu Spannungen: So protestierte Pakistan gegen den Bau der Dämme bei Baglihar (in Betrieb seit 2008) und Kishanganga (2018).
Der Induswasservertrag hat zwei Kriege überstanden, 1965 und 1971, sowie diverse gewaltsame Auseinandersetzungen. Da sich der Bau von Staudämmen lange hinziehen kann, ist die Bedrohung für Pakistans Wasserversorgung zumindest vorerst minimal. Doch Narendra Modis Worte wirkten beunruhigend. Schließlich bezieht Pakistan rund 80 Prozent seines Bewässerungsbedarfs aus dem Indusbecken.6
Das Imponiergehabe auf beiden Seiten – zum Teil unrealistisch wie Modis Drohung, er werde Pakistans Wasserversorgung gewissermaßen über Nacht kappen – verfängt bei der Bevölkerung jedoch nur bedingt. Über die sozialen Medien ist man in Indien und Pakistan mittlerweile eng verbunden und teilt oft satirische Inhalte. So gibt es ein Meme über Inder, die gerade erfahren, dass der in Indien äußerst populäre Sänger Atif Aslam eigentlich aus Pakistan kommt, woraufhin sie eine eigene Wasserpipeline für ihn fordern. Oder es wird gewitzelt, dass der aktuelle Krieg zwischen Indien und Pakistan aus „Sicherheitsbedenken“ in Dubai fortgesetzt wird – in Anspielung auf die Tatsache, dass seit einem Terroranschlag auf das Sri-Lanka-Team in Lahore 2009 das pakistanische Cricketteam den Großteil seiner „Heimspiele“ in den Vereinigten Arabischen Emiraten ausgetragen hat.
Mit solchen satirischen Gegennarrativen werden die nationalistischen Posts aufs Korn genommen, mit denen die Regierungen beider Länder seit 15 Jahren die sozialen Medien überschwemmen. Nachdem Indien früher Inhalte aus Pakistan auf seinem Territorium blockiert hatte, verbreitet es neuerdings vor allem Desinformationen, in denen etwa das Ausmaß pakistanischer Anschläge stark übertrieben oder behauptet wird, der Hafen von Karatschi oder die Luftabwehr des Feinds seien zerstört worden.
Die Armeesprecher beider Länder sind indes eher bemüht, die Flammen kleinzuhalten – obwohl auch sie gern reihenweise „Siege“ und „militärische Erfolge“ für ihre Streitkräfte reklamieren. Nach Indiens ersten Raketenangriffen am 6. Mai wurde in einer Pressemitteilung aus Neu-Delhi extra betont, dass der Angriff keinen militärischen Einrichtungen gegolten habe. Und das pakistanische Militär teilte seinerseits mit, dass es sich auf Verteidigungsmaßnahmen beschränke, und rief zur Deeskalation auf.
Am 10. Mai verkündete US-Präsident Trump auf seiner Plattform Truth Social triumphierend: „Nach einer langen Nacht der Verhandlungen unter Vermittlung der Vereinigten Staaten freue ich mich zu verkünden, dass sich Indien und Pakistan auf einen umfassenden und sofortigen Waffenstillstand verständigt haben. Glückwünsche an beide Länder, dass sie gesunden Menschenverstand und große Intelligenz bewiesen haben.“
Weltweit war die Erleichterung zu spüren, dass die beiden Atommächte nach viertägigen Scharmützeln aufeinander zugegangen waren. Doch dann wurde der X-Account des indischen Außenministers Subrahmanyam Jaishankar mit Fragen geflutet: Ob es der Regierung wie angekündigt gelungen sei, die terroristische Infrastruktur in Pakistan zu zerstören? Und schon flogen wieder Drohnen aus Pakistan über die Grenze. Wie sich herausstellen sollte, war eine Großmacht nicht erfreut darüber, wie der Waffenstillstand zustande gekommen war: China. Erst nachdem sich Peking und Islamabad ausgetauscht hatten und Chinas Außenminister mit Indiens Nationalem Sicherheitsberater Ajit Doval telefoniert hatte, hörten die Angriffe aus Pakistan auf.
Am 12. Mai erklärte Lin Jian, der Sprecher des chinesischen Außenministeriums, er sei nun auch sehr zufrieden über das Ende der Feindseligkeiten, und wies darauf hin, dass China die ganze Zeit in engem Austausch mit den betroffenen Parteien gestanden und stets an Indien und Pakistan appelliert habe, eine Eskalation zu vermeiden: „China ist bereit, weiterhin mit Indien und Pakistan zu kommunizieren und eine konstruktive Rolle bei der Herbeiführung eines umfassenden und dauerhaften Waffenstillstands zwischen Indien und Pakistan zu spielen sowie Frieden und Stabilität in der Region aufrechtzuerhalten.“7
Doch solange die beiden Staaten den Menschen in Kaschmir und in Belutschistan kein Gehör schenken, gibt es wenig Hoffnung, dass die Waffen dauerhaft schweigen werden. In seiner Rede vom 15. April erklärte Pakistans Armeechef Asim Munir, Belutschistan sei „das Schicksal Pakistans und der Edelstein in seiner Krone“. Und der indische Premier Narendra Modi behauptete, die Aufhebung des Autonomiestatus von Jammu und Kaschmir hätte die Ruhe in der Region wiederhergestellt. Diese Lüge wurde nun widerlegt. Und es deutet alles darauf hin, dass der Konflikt weitergeht.
Aus dem Englischen von Birgit Bayerlein
Hashim bin Rashid ist Soziologe aus Pakistan und lehrt an der University of Pennsylvania.